30. November 2010

Bal (Semih Kaplanoglu) 6,46




Nanu? Honig, der preisgekrönte Abschluß der Yusuf-Trilogie, der Gewinner des Goldenen Bären, jener Teil, welcher der westlichen Filmcommunity am bekanntesten zu sein scheint, entpuppt sich leider als der magerste Teil der Trilogie. Vielleicht spielen nach 2 tollen Filmen und den Auszeichnungen und Lobeshymnen für den dritten auch Erwartungshaltungen eine Rolle; dazu kommt, dass man sich von einem Abschluß vielleicht noch mal etwas Besonderes erwartet. Doch die große Begeisterung will sich hier leider nicht einstellen. Diese faszinierende Person Yusuf gibt als Kind einfach nicht so viel her wie seine erwachsenen Pendants, der ganze Film ist diesmal fast noch ruhiger als seine Vorgänger, kryptische Szenen kommen kaum vor, die Ereignislosigkeit ist noch etwas auffälliger und beim dritten Mal in dieser Form dann doch schon etwas mühsam, das Verlassen auf das Setting einer Kindheit in der Abgeschiedenheit der Berge und die daraus resultierende Vormachtstellung kaum berührter Natur doch ein wenig limitierend.

Interessante Entdeckung übrigens, dass dieser Teil auf keinen Fall in der Vergangenheit spielt, obwohl Yusuf ja jünger sein müsste, die Zeitlinien in der Trilogie sind also eher surreal.

Kaplanoglu inszeniert aber, vor allem gegen Ende, wieder beeindruckend (so wird etwa die lange vorherrschende Stille der Natur plötzlich durch Lebendigkeit im Dorf unterbrochen, sehr spannend!), und ganz behutsam offenbart sich nun die Ganzheitlichkeit des bitteren Schicksals von Yusuf. Das Ende ist enorm, hervorragend inszeniert und tief traurig (hat aber gleichzeitig etwas Majestätisches). Leider aber gab es davor die meiste Zeit doch ein bisschen zu viel Leerlauf für einen richtig guten Film.

Als Ende/Beginn der Yusuf-Trilogie besitzt Bal dennoch einen wichtigen Status und bleibt sehenswert. Dass die Trilogie nun zu Ende ist, ist sehr schade - man hätte sich gerade deshalb zum Finale ein etwas aufregenderes, gehaltvolleres, oder ein auf wenig- bis unterbewusster Ebene durch mehr meisterliche Bilder und Szenen packenderes Werk gewünscht.

29. November 2010

O Estranho Caso de Angélica (Manoel de Oliveira) 6,73




Eine betörende Frau, die einen Mann so dermaßen in ihren Bann zieht, dass sein Leben völlig aus den Fugen gerät und er offensichtlich ins physische und soziale Verderben gestürzt wird - doch ist nicht das Wichtigste im Leben ohnehin die Liebe?

Eine derartige Beschreibung von de Oliveiras neuem Film hört sich ja genauso wie sein letzter Film an! Und wieder wird der arme männliche Tor vom selben Schauspieler (Ricardo Trépa) verkörpert! Doch es gibt natürlich auch Unterschiede. Der bedeutendste und nicht gerade unerhebliche: Die verführerische Schönheit ist hier bereits zu Beginn des Films mausetot! Minutenlang liegt sie aufgebahrt da, ihr bizarr strahlendes Lächeln wird vom tragischen Helden (ein Profi-Fotograf) und der Filmkamera beleuchtet. Was ist hier los? Wie kann diese Tote die zentrale Figur einer Liebesgeschichte sein? Schlägt sie gar wieder die Augen auf?

de Oliveira spielt in diesem sich mehr als unsterblich verlieben-Drama öfter mit den Erwartungen des Zuschauers, dreht einen Film auch über das Medium selbst, über filmische und fotografische Manipulationen, und ähnlichem. Auch die zeitliche Einbettung der Geschichte ist für den Betrachter lange schwierig herzustellen, irgendwann lässt sich zwar schon die Gegenwart ausmachen, aber dennoch ist es eine höchst altmodische Welt, auch in dieser Ansicht also wiederum eine starke Ähnlichkeit zum Vorgänger.

Leider wird aber die Klasse dieser Eigenheiten einer jungen Blondine, einem absoluten Ausnahmewerk, vom Folgefilm nicht erreicht. Der seltsame Fall der Angelica ist ein schön schauer-romantisches Stück Film, und es wird auch nicht allzu oft vorkommen, dass ein über 100-jähriger Regisseur zum ersten Mal in seiner Karriere noch Computereffekte integriert (und dann noch auf so entspannt altmodische Weise). Dennoch vermag es dem Portugiesen mit seinem 30. Langspielfilm schlußendlich nicht gelingen, echte Begeisterung aufkommen zu lassen. Es ist eher so, als sähe man im Kino des 21. Jahrhunderts einen sehr alten Film, der frühere Generationen einmal sanft unterhalten hat. Das vermag er zwar auch noch heute, aber viel mehr ist da leider nicht.

26. November 2010

El sicario - Room 164 (Gianfranco Rosi) 8,43




Nur kurze Zeit nach der feinen Wüsten-Aussteigerstudie Below Sea Level hat Gianfranco Rosi schon wieder eine höchst sehenswerte Doku gedreht. Es ging auch deshalb so schnell, da dieses außergewöhnliche Projekt nur wenige Stunden Dreharbeit in Anspruch nahm. Basierend auf der Vorrecherche und einem ausgezeichneten Zeitungsartikel des Journalisten Charles Bowden trifft und interviewt Rosi einen ehemaligen Folterer und Killer eines riesigen mexikanischen Kartells. Dieser erzählt - die ganze Zeit mit einem schwarzen Tuch über dem Kopf unkenntlich gemacht (und dennoch alleine durch Stimme und Hände enorm präsent) - wie ein Wasserfall von seinem abenteuerlich anmutenden, aber scheinbar für seinesgleichen recht typischen Werdegang und seinen wilden, verstörenden Grenzerfahrungs-Taten. Zwei Besonderheiten gestalten dieses filmische Protokoll darüber hinaus beeindruckend: der sicario (Auftragsmörder) erzählt das alles in einem Hotelzimmer (Nummer 164), in dem er früher Gefangene gefoltert und ermordet hatte, und er zeichnet wie ein Besessener alle seine Erzählungen selbst mit: im Laufe der Dreharbeiten füllt er auf diese Weise ein ganzes Buch mit Skizzen seiner Handlungen sowie persönlichen Ansichten und Einstellungen.

Der sehr charismatische, namenlose Aussteiger, auf den derzeit Kopfgeld ausgesetzt ist, fesselt den Zuseher bei gleichzeitiger Abscheu und Neugier dadurch fast 90 Minuten in den Sessel; die bei so einem Projekt mögliche Gefahr der Eintönigkeit kommt gar nicht erst auf, so drastisch ist das Thema und so unglaublich ist es doch, diesen Mann unverblümt die Innenansichten eines erbarmungslosen Kartells und vor allem seine eigenen Beweggründe, seine Gefühle intim schildern zu sehen und zu hören, bis es am Ende zu einem kuriosen Ausbruch kommt. Ein tief beunruhigender und zugleich faszinierender Mensch – das gleiche gilt somit natürlich auch für diesen besonderen Film.

25. November 2010

Oceanul Mare (Katharina Copony) 5,10




Eine mäßige Doku über drei chinesische Auswanderer, die sich in Bukarest eine Existenz als Geschäftsleute aufgebaut haben. Der Film ist zwar einfühlsam und an den (zunächst auch noch durchaus interessant anmutenden) Menschen dran, die Charaktere philosophieren über ihr Leben, aber das, entschuldigung, Geschwafel und die Alltäglichkeiten sind dann doch eine Spur zu beliebig (für eine "preisgekrönte Doku"). Da die oft aufreizend langsame, fast banale Inszenierung auch immer mehr im Nichts verläuft, ist dieser dokumentarische Filmbeitrag im Vergleich mit vielen anderen spannenden Kollegen, die von der gegenwärtigen weiten Welt und ihrer Bewohner berichten, eher langweilig und wenig anregend.

24. November 2010

Süt (Semih Kaplanoglu) 8,26




Nach dem Ei kommt die Milch. Der zweite Teil von Kaplanoglus „Yusuf-Trilogie“ beginnt gleich mal mit einer meisterlichen, verstörenden Szene vor dem Vorspann. Danach entspinnt sich wieder dieser ruhige, dialogarme, bildstarke Stil, der schon Yumurta kennzeichnete. Yusuf ist jetzt 20 Jahre jünger, ein junger, einsamer Mann auf dem Land, er lebt zusammen mit der Mutter (die im ersten Teil ja frisch verstorben war). Wir lernen, dass Yusuf auch in diesem Alter schon ein sehr ruhiger, in sich versunkener Typ ist, der kaum soziale Kontakte hat. Er ist ein Poet, der hofft, dass eines seiner Gedichte mal veröffentlich wird.

In Süt passiert scheinbar nicht viel, jedoch wird ungemein stilvoll eine faszinierende Geschichte eines jungen Mannes, der prägende Lebenserfahrungen macht, erzählt.

Im letzten Drittel ist der Film dann stark surreal bzw. metaphorisch geprägt, Kaplanoglu inszeniert plötzlich sehr mysteriös-kunstwillig. Schwer entschlüsselbar, ziemlich beeindruckend. Das Ende lässt einen rätselnd zurück und die Gewissheit, dass wir Yusuf nur noch als Kind sehen, von seiner späteren Entwicklung aber nichts mehr erfahren werden, ist gar nicht so leicht zu verkraften, so toll sind Werk und Person. Aber gerade dieses gezielte Offen lassen von Vielem, was in einem Mainstream-Epos (oder auch einem Entwicklungsroman) vermutlich detailreich abgehandelt worden wäre, macht die Größe des Films (bzw. der gesamten Trilogie) aus. Und Süt ist, das sei schonmal vorweg genommen - trotz des großen Erfolges des abschließenden Bal/Honig - als Herzstück auch der stärkste Teil der Trilogie.

23. November 2010

Hunger (Vetter/Steinberger) 8,08




Nicht das gleichnamige Polit-Kunst-Drama (das hier natürlich auch noch einmal besprochen werden wird), sondern eine Fernseh-Dokumentation zum Thema (Dritte)Welthunger. Dass dieser Film nicht fürs Kino gedreht wurde, mag man ihm anmerken, man fühlt sich durch Verzicht auf starke Bilder oder wuchtige Szenen, u.ä. aber auch wesentlich sachlicher informiert als in so manch anderem vergleichbaren Dokumentarfilm (etwa Wagenhofers We feed the world). Die Kombination aus Filmemacher und renommierter Journalistin trägt dazu sicher auch bei. In 5 Ländern wurde recherchiert und hautnah dran, aber nicht sensationalistisch gedreht; Menschen, die an Hunger leiden, bekommen ebenso ein nüchternes Sprachrohr wie solche, die mithelfen, etwas zu verändern. So entsteht in 90 Minuten ein interessantes Bild einer (für einen Film generell viel zu) komplexen Problematik.

22. November 2010

Moon (Duncan Jones) 7,85




Ein Mann am Mond, ganz allein arbeitend. Bald hat er erste psychische Wahnvorstellungen, der Film scheint im Fahrwasser von Solaris zu schwimmen. Doch die Geschichte dreht sich hier um ein anderes Thema..

Moon ist ein relativ simpler, aber kompetent inszenierter, durchwegs spannender Film; ein sympathisch unaufgeregtes, humanistisch-klonistisches Werk. Getragen von einer One Man Show des leidenschaftlichen Sam Rockwell und einem wieder einmal großartigen Soundtrack von Clint Mansell entspinnt sich nette Sci-Fi-Unterhaltung, nicht mehr und nicht weniger. Nach dem Abspann bleibt nicht viel zu reflektieren, diese Mondreise ist auch bei weitem nicht so visionär und spektakulär wie etwa der letzte große Weltraumfilm, Danny Boyles Sunshine, doch Jones hat ordentliche Unterhaltung abgeliefert.

20. November 2010

Invernadero (Gonzalo Castro) 0,60




Ruhige, sperrige, schwierige Filme sind schön. Unbewegte Kamera ist was Tolles. Filme über eigenbrötlerische Schriftsteller sowieso immer fein. Doch Invernadero ist anders. Invernadero ist belanglos. Ärgerlich. Unendlich belanglos. Und noch immer. Die Gespräche wären sogar in einer privaten Unterhaltung nicht besonders interessant. Im Kino sind sie, auf eineinhalb Stunden gedehnt, eine Zumutung. Szene auf Szene reiht sich ein Pseudo-Dialog an den nächsten. Der Schriftsteller uncharismatisch, langweilig, auch ziemlich unsympathisch. Am Ende gibt es Almodovar-Bashing, sein neuer Film sei doch so langweilig gewesen, köstlich. Wer im Gewächshaus sitzt, sollte bitte nicht mit Felsbrocken werfen.

Wenn es darum gehen soll, einen Schriftsteller und seinen Alltag als möglichst unglamourös und belanglos darzustellen: schön. Wäre auch eine feine Sache. Aber selbst unter dieser Prämisse ist der Film völlig gescheitert. Radikal ist er nämlich kein bisschen, nur einschläfernd und ärgerlich beliebig. Am Ende gibt es sogar Applaus; Leute, denen dieses Werk gefällt, scheint es tatsächlich zu geben. Vielleicht haben sie ja zum ersten Mal eine statische Kamera und einen langweiligen Künstler gesehen...

19. November 2010

Kaboom (Gregg Araki) 6,10




Eine Hochglanz-Highschool-Sex-Klamotte. Araki-Style. Heisst, es gibt nicht nur Fun, Sex und Drogen, sondern auch düstere Visionen, Vorahnungen der Apokalypse. Doch anders etwa als in dem aufregenden Nowhere ist hier alles eine Spur leichter. Leichter verträglich, weniger Psychoscheiß, kaum Verstörung. Strahlend hell die Bilder, schön und heiß die Studenten. Ironie? Höchstwahrscheinlich..

Das Treiben in Kaboom ist auch etwas hohl, zu beliebig und etwas zu sehr Abklatsch vergangener Arakis. Man wünscht sich dann oft während des Films, jetzt mögen das Chaos, das Düstere, die verstörenden Elemente, vielleicht auch neue Facetten des Regsisseurs sich endlich den Weg bahnen, doch alles bleibt recht clean.

Das Ende allerdings macht dann doch richtig Spaß: Placebo singen vom bitter end, plötzlich überschlägt sich alles und Dauergrinsen kann sich einstellen, der Film endet fulminant. Die 90 Minuten davor werden dadurch aber auch nicht entscheidend besser. Kaboom ist leider nur ein Araki light: immer noch ganz witzig, aber im Grunde überflüssig.

17. November 2010

Trash Humpers (Harmony Korine) 8,26




Müll-Rammler! Dauergeile Senioren! Baby-Quäler! Gegenstände-Demolierer! Verstörende Aufnahmen in schleißigster Video-Qualität. Eine Art Avantgarde-Aktionisten-Dada-Gaga-Blair Witch Project. MAKE IT MAKE IT DONT FAKE IT!

Harmony Korine (Gummo; Autor von Kids, Ken Park) hat ihn gemacht: nicht den besten, aber wohl den kultigsten Film des Jahres. Die Frage, ob diesem nervenvögelnden Meinungsspalter eine bedeutsame Subversivität innewohnt, oder ob die filmische Attacke auf jeglichen Geschmack irgendeinen Sinn ergibt, erscheint selbst ziemlich sinnlos. Es heißt eher, diese komisch-irritierende Abartigkeit, dieses Zelebrieren eines Nichts an Story, die Poesie des Hässlichen als etwas ganz Besonderes zu genießen (oder zumindest zu respektieren).

Korine inszeniert nicht einfach nur irgendwas, sondern er dreht ein bewusstes Manifest für das Außenseitertum, eine provozierende Attacke auf die Normalität, auf gute Manieren, auf Anstand und Moral. Junge Menschen in Seniorenmasken, die Dinge tun, vor denen viele alte Leute heute Angst haben, dass die gottlosen, aggressiven Jugendlichen so drauf sind – das ist weird und hintersinnig zugleich.

Nach gut einer Stunde ist das hedonistische Treiben aber auch etwas redundant und ermüdend. Dennoch, dieser Film ist so außergewöhnlich, so außerhalb von allem: der böse siamesische Zwilling von Jackass, vielleicht der Pink Flamingos seiner Generation.

Am Ende dann die pure Poesie. Die vormals so verstörende Frau, die die Babypuppen mit dem Rad durch den Dreck geschleift hat, spaziert mit einem echten Baby durch die dunklen Strassen. Der Ton wird ganz sanft, das vormalig düstere Lied von den drei Teufeln, die über die Mauer sprangen und alle ermordeten, nimmt einen friedlichen Text an und fungiert als veritables Schlaflied für das Baby. Harmony Korine, selbst ein Teufelskerl, hat hier sein radikalstes Werk, sein Meisterstück abgeliefert. Und alle Fans dieses Films mögen danach selbst zum Spaß Mülltonnen rammeln, dämlich-diabolisch lachen und das Lied von den three little devils singen. Alle anderen flüchten vor oder aus diesem Film, oder bleiben für immer von ihm verstört. Dabei wollen die Humpers doch nur spielen.

16. November 2010

Winter's Bone (Debra Granik) 9,35




Hin und wieder gibt es so einen Film, der einen von der ersten Minute packt und dank perfekter Regie, hervorragender Darsteller und einer intensiven Geschichte auch bis zum Abspann und weit darüber hinaus nicht mehr los lässt. Mit dieser Romanverfilmung ist der amerikanischen Filmemacherin Debra Granik mit ihrem erst zweiten Werk so ein intensives, düsteres, ungemein dichtes, authentisch und beklemmend wirkendes Meisterstück gelungen.

Ein 17-jähriges Mädchen, irgendwo in einem unwirtlichen Abschnitt Missouris, die Mutter psychisch krank, der Vater im Knast, sie kümmert sich um die zwei kleinen Geschwister. Es ist eine raue, von Männern, von harten Kerlen dominierte, triste, schäbige Welt, in die man hier mehr als überzeugend hineingeworfen wird. Eines Tages der Schock, der die undurchsichtige Geschichte in Gang bringt: der Vater, in Drogengeschäfte verwickelt und verhaftet, hat als Kaution das Haus der eh schon bettelarmen Familie hinterlegt und ist spurlos verschwunden, die Existenz der Heldin und ihrer Verwandten wird bedroht.

Ree, die Heldin, fragt unbeirrt in der organisiert-kriminellen Nachbarschaft nach, wo der Vater sein kann. Doch seine Drogen-Kumpanen, zum Teil die eigene Familie hält dicht und zeigt ihr die eiskalte Schulter. Sehr milde ausgedrückt, denn in diesem Film herrscht eine enorm bedrohliche, durch Gewaltbereitschaft bestimmte Atmosphäre. Die zart und verletzlich scheinende, aber gleichzeitig megatoughe Ree missachtet jedoch immer mehr frech und unerschrocken interne Gesetze in diesem brutalen Patriarchat und begibt sich damit in unmittelbare Lebensgefahr und auch ins Reich der Schmerzen - der Film ist alles andere als zimperlich.

Es entspinnt sich im weiteren Verlauf eine komplexe Geschichte, ein Heimatkrimi, so intensiv wie es äußerst selten ist. Spontane Assoziationen an Vorbilder lauten: Chinatown oder Badlands und mit solchen Klassikern in einem Atemzug darf Winter's Bone künftig auch ohne Zweifel genannt werden.

Am Ende dieser hervorragenden Tour de Force wird sogar die Säge angeworfen und für kurze Momente mag man sich an beliebte Horrorfilme erinnert fühlen, was im Saal einige zu Gelächter animiert. Doch in der gleichen Sekunde ist da auch schon wieder diese Beklemmung spürbar, diese tiefe Bitterkeit in einem markerschütternden und gleichzeitig ungemein spannenden, kurzweiligen Kino(!!)-Meisterwerk.

15. November 2010

Koyamaru (Jean-Michel Alberola) 7,07



Es folgt eine pure Dokumentation: Koyamaru, ein japanisches Dorf, gar nicht so weit entfernt von Tokyo, aber dennoch abgeschnitten von vielen Errungenschaften der modernen Zivilisation. Hier leben die (vermehrt alten) Leute in friedlichem Einklang mit der Natur, absolut entschleunigt. Der Stil des Films entspricht auch dieser Ruhe, zweimal 90 Minuten hat sich Alberola für sein Porträt Zeit genommen, geteilt nach Jahreszeiten: zunächst Winter und Frühling, dann Sommer und Herbst. In Schwarz-weiß und generell recht kunstvoll gedreht ist Koyamaru schön, aber auf Dauer eben auch ruhig, sehr ruhig. Genau wie sich so ein Dorfleben mit der Zeit auch gestalten dürfte, nämlich etwas fade, verlaufen die beiden Filme über 3 Stunden. Bei den Lobpreisungen der Dorfbewohner an dieses „wahre Leben“ und sich selbst, und gleichzeitigem subtilen Schlechtreden des Großstadtlebens scheint hin und wieder einiges an Konservatismus durch, doch halb so wild: Alberola porträtiert und dokumentiert gefühlvoll und somit ist Koyamaru ein feines, kleines (dabei jedoch sehr zeit-aufwendiges) Projekt, das vermutlich weltweit kaum mehr Publikum hat, als das Dorf selbst Einwohner.

9. November 2010

Le Quattro Volte (Michelangelo Frammartino) 6,67




Ein „Dokumentarfilm“ (so die Einordnung im Viennale-Programm) über einen Ziegenhirten irgendwo in den Bergen Kalabriens. Traumhafte Bilder, ein alter Eigenbrötler bei der naturverbundenen Arbeit…simpel und schön zugleich verläuft zunächst dieser Film, doch er wird seinen Stil noch einige Male ändern…

Nach einiger Zeit nämlich gibt es da eine sensationelle Szene mit einem Passions-Umzug, einem Auto, einem Hund und einer seelenruhig von links nach rechts und wieder zurück schwenkenden Kamera. Da wird einem auch klar, dass „Dokumentation“ das falsche Wort ist. Frammartino hat einen großartig freien und von allen Genres und Regeln losgelösten, sicher nicht nur dokumentierenden Naturfilm gedreht: plötzlich groteske Ziegencomedy, dann putzige Tierbabyszenen, kurz darauf wieder ein mild düsterer Tierbabythriller, das ist etwas Besonderes und macht auf wunderbare Weise Spaß.

Doch dann leider ein weiterer Bruch, der den Film im letzten Drittel in weniger erbauliche Regionen abfallen lässt. Den großartigen Darstellern Hirte, Hund und Ziegen folgen nun die Dorfgemeinschaft und Produktionsprozesse als Zentren des Films. Und das wirkt plötzlich festgefahren, vorhersehbar. Sicher: ein Kreislauf schließt sich (Le quattro volte = Die vier Jahreszeiten?), es macht Sinn, es ist kaum wirklich kritisierbar, was Frammartino da mit seinem Film macht. Aber so spaßig und erfrischend anzusehen wie es lange war, ist so ein Verlauf fast ein wenig schade. Dennoch über weite Strecken ein echtes Erlebnis!

8. November 2010

The future will not be capitalist (Sasha Pirker) 4,90




Ein kokett aufmerksamkeitserregender, sensationalistischer Titel, aber dahinter steckt bloß ein wenig aufregender Kurzfilm, dessen Tiefgang (oder weniger fordernd formuliert: Qualitätsmerkmal) entweder erst gar nicht vorhanden ist oder dermaßen minimal, dass nichts wahrnehmbar ist. Sasha Pirker filmt eigentlich nur ein Gebäude, in dem die kommunistische Partei Frankreichs ihren Sitz hat. Für Architektur-Interessierte mag das noch ansprechend sein, für den gemeinen Zuseher eher fad.

Zusammenhänge zwischen dem Gebäude an sich und der kommunistischen Ideologie sind dadurch gegeben, dass beide schon bessere Zeiten gesehen haben, das war es dann aber auch schon wieder. Ein scheinbar recht berühmtes Bauwerk als einstige Meisterleistung und jetzige Halb-Bruchbude zu zeigen, mag für die Künstlerin reizvoll sein, aber dieses Werk mit einem fast verzweifelt anmutenden, (Zuseher, die etwas im weitesten Sinne
Politisches erwarten, in die Irre führenden), oder vielleicht einfach nur sarkastischen Titel ist auch trotz seiner kurzen Laufzeit von knapp 20 Minuten ziemlich dröge.

2. November 2010

Monuments (Redmond Entwistle) 6,55




Drei Männer gehen auf die Kamera zu. Es sind Schauspieler, die Architekten bzw. Künstler verkörpern. Gemeinsam schreiten die Herren zu Plätzen und Gebäuden in New York und New Jersey, die sie gestaltet oder mit denen sie sich intensiv beschäftigt haben. Immer wieder fährt ein Kopierer über Artikel, die einst von den Herren verfasst wurden und darüber wird dann philosophiert. Oft schwer verständlich für den Laien, sehr speziell, aber es scheint immer ein angenehmer Humor durch.

Es ist ein halbstündiger Special Interest Film, für dessen Verständnis man vermutlich in der Materie drin sein muß, dennoch gelingt es Entwistle auch für einen völlig Außenstehenden ein faszinierendes Erlebnis zu schaffen, indem er die Protagonisten seines Essayfilms auf Wanderschaft schickt und so Mensch und öffentlichen Raum geschickt miteinander interagieren lässt. Das Sperrige wird mitunter durch filmisch durchaus beeindruckende Sequenzen (wie etwa den Ausklang) oder schräges Monologisieren aufgelockert und so lässt sich selbst, wenn man weniger von der Materie versteht, von einem feinen, mit Liebe produzierten Film sprechen.

Get out of the car (Thom Andersen) 6,65




Schilder. Bilder. Ein Schilder-und-Bilder-Film. Und ein Musik-Film. Ein Los Angeles-Film (typisch für Andersen scheinbar, übrigens). Die Kamera starr. Alle paar Sekunden ein neues abgenütztes, ausgefranstes, nicht mehr verwendetes Schild, eine neue religiös motivierte (Ghetto-)Wandmalerei. Hin und wieder ein (eh kaum verständlicher) Kommentar. Vielfalt in Los Angeles, so abgefuckt, so kreativ, so profan, so religiös, so spannend, so fade. Das halbstündige Erlebnis im Kinosessel zwiespältig: nie ist diese Arbeit, die einem Gang durch eine Ausstellung ähnelt, wirklich begeisternd, aber letztendlich wars doch ganz nett, fast wie ein relaxter Stadt-Spaziergang an kuriose Orte, die man zum ersten Mal sieht.

Interludium - de Andrade, Denis, Cohen

Diesen Blog habe ich Anfang des Jahres vor allem gestartet, um die schier unüberblickbare Vielzahl an neu erschienenen und auch wirklich sehenswert erachteten Filmen - von denen die besten leider zunehmend den meisten erst gar nicht bekannt zu sein scheinen - vorzustellen und zu besprechen.

Was übrigens als Arbeitnehmer außerhalb des Filmjournalismus eine ohnehin niemals bewältigbare Aufgabe ist, wie mir mittlerweile bewusst ist. :) Anyway, i try my best...

Selbstverständlich schaue ich aber auch regelmäßig ältere Filme, die ich ab heute auch noch hier besprechen möchte. Um jedoch das Hauptanliegen des Blogs nicht zu konterkarieren und die Überschichtlichkeit zu wahren, werde ich diese älteren Werke von Zeit zu Zeit jeweils in 3er-Gruppen als Interludium, also Zwischenspiel, zusammenfassen.

Los geht es also mit folgenden 3 Filmen:


Macunaima 8,1

Der Titel ist der Name des Antihelden, der Film beginnt mit dessen Geburt. Er fällt bereits als (nur physisch) "Erwachsener" aus Mutters Schoß zu Boden. So ist de Andrades Groteske von Beginn an enorm absurd. In den folgenden knapp 100 Minuten passiert unendlich viel Verrücktes, der Film wechselt mühelos Genres und Settings und erzählt eine weirde Coming-of-Age Geschichte, vielleicht am ehesten vergleichbar sogar noch mit Forrest Gump, oder nein, lassen wir diesen Vergleich lieber sein. Immer wieder geht es natürlich um Frauen (und Sex); und eine, nämlich eine Art männermordende Hexe beendet schließlich auch sein Leben. Zu diesem Film gäbe es sicher noch viel zu sagen, doch um den Rahmen nicht zu sprengen, nur noch eines: Bei all den kreativen Wahnwitzigkeiten ist er durchaus kurzweilig und hat auch gewissen Tiefgang, irgendwann aber ist das Ganze dann aber doch etwas ermüdend, vielleicht sogar etwas zu sehr "Stückwerk". Toll zum Ansehen, aber wenig, was nach dem Abspann übrig bleibt.


Beau Travail 7,2

Claire Denis inszeniert beeindruckend, opernhaft, mysteriös. Die Geschichte um eine Gruppe von Fremdenlegionären aber wird kaum greifbar, Entscheidendes wurde wohl auch absichtlich ausgelassen.. Mit der Zeit fand ich den Film immer weniger interessant, die Tragödie der Melville-Vorlage (mir nicht bekannt) vermag Denis nicht besonders gut erfassen, so scheint es zumindest. Ein durchaus interessanter, enorm sperriger, phasenweise atemberaubender, dann aber auch wieder zu kalt lassender Film.


Bone 8,7

Ein mieser Tag in Beverly Hills. Ein reiches, weißes Ehepaar am Pool. Plötzlich ein Eindringling, ein krimineller Schwarzer! Nervenzerrende Jazzmusik und ebensolche Inszenierung, ein klaustrophobischer Psychothriller a la Funny Games scheint sich anzubahnen. Doch bald schon dreht der Film ab, auf oft unglaubliche Art und Weise. Der meist unpackbar unpassende Humor, die Einfälle sind sensationell. Genau das Richtige für Leute, die glauben, schon alles an schrägen Filmen gesehen zu haben. You will be mind-raped!

L'École du pouvoir (Raoul Peck) 8,27




Nach dem ziemlich zahnlosen Moloch Tropical über seine Heimat Haiti hat Raoul Peck mit Unterstützung von 3 weiteren Drehbuchautoren mit diesem TV-Vierstünder über die Politik in seiner Wahlheimat Frankreich in den 80ern eine sehr süffige, schwer unterhaltsame Mini-Serie hinbekommen.

Anhand einer kleinen Gruppe junger Elitestudenten, die Lehrjahre der Macht (korrekt: die Schule der Macht) durchlaufen, und die sich gegenseitig zunächst schwören, trotz ihrer guten Chancen die "großen Organisationen" links liegen zu lassen, und wirklich etwas bewegen wollen, erzählt Peck eine vielschichtige und spannende Geschichte über die komplexen Problematiken der Realpolitik, über Macht(mißbrauch) und Korruption, über große Ziele und bittere Einsichten.

Aber, und das gestaltet dieses Politdrama so lebendig und unterhaltsam, es wird eben wie in einem klassischen TV-Mini-Epos üblich, auch leidenschaftlich geliebt und gehasst, politisch und privat diskutiert und gestritten, gemeinsam gelitten; und egal, ob man links oder rechts steht, die Freundschaft (bzw. auch Familie) verbindet die 5 Jungpolitiker für immer.

Peck bindet in die Spielfilmhandlung immer wieder virtuos (und oft atmosphärisch mit Musik untermalt) Archivaufnahmen politischer Ereignisse oder Debatten aus dem Frankreich der 80er ein, und spannt so - 4mal eine Stunde lang - ein tolles, zugleich niveauvolles und unterhaltsames Drama mit lebendigen Charakteren, mit denen man im Kampf um ehrenvolle und etwas bewegende Politik gerne noch länger mitfiebern würde.