9. Juni 2010

Disgrace (Steve Jacobs) 8,14




Der gleichnamige Roman (dt. Schande) von Nobelpreisträger J.M. Coetzee ist ein großartiges Stück Literatur, eine echte Offenbarung: Südafrika nach dem Ende der Apartheid, die natürlich immer noch existente Rassenproblematik, Sex, Gewalt, Liebe, Literatur, Musik, Entstehung und Wirkung von Kunst, Mann und Frau, Vater und Tochter, Mensch und Tier – oder Mensch als Tier? Alle diese Themen vereinte Coetzee meisterlich zu einem ungeheuren Roman voll kontroverser Sprengkraft, geradezu bewusstseinserweiternd wirkte dieses Werk vor ein paar Jahren auf mich.

Steve Jacobs und seine Frau und Drehbuchautorin Anna Maria Monticelli orientieren sich so nahe wie vermutlich möglich an der Vorlage, die kühle Sprache Coetzees wird auch in kühle Bilder umgesetzt, einmal provoziert die Verbindung aus theatralischer Musik und imposanter Landschaftsaufnahme den Vergleich zu Kubrick und tatsächlich könnte sich Jacobs bei seiner gesamten Herangehensweise am Großmeister orientiert haben..nicht die schlechteste Idee. Ein Großteil des Romans wurde demnach sehr gut umgesetzt, leider fand ein zentraler Punkt, der bei Coetzee geschilderte Entstehungsprozess von Luries Byron-Oper, diese Abhandlungen über die Kunst und gleichzeitig die vielen Reflexionen zum Verlangen (nach dem jungen, weiblichen Körper), nicht den Weg in Jacobs Film. Auch wenn dies mit den natürlichen Grenzen des Mediums erklärbar ist, so bleibt doch kritisch festzuhalten, dass es nicht einmal ansatzweise versucht wurde, sondern wichtige Bestandteile des Romans einfach ausgeklammert wurden. Das macht die Verfilmung per se noch nicht misslungen, aber die außergewöhnliche Qualität von Coetzees Meisterwerk wird eben auch nicht erreicht.

Jacobs und Monticelli reihen auch die Schlußszenen anders als im Buch, das viel fatalistischer und bitterer endet – nämlich mit dem lakonischen Aufgeben des Hundes (im Film ist das die vorletzte Szene). Im Film dagegen steht der Besuch Luries bei der Tochter ganz am Ende. Sicher vertretbar, denn erstens lässt dies ein visuell eindrucksvolles, „filmisches Ende“ zu und andererseits ist eben das beherrschende Thema des Films, noch deutlich intensiver als im Roman (der mindestens ebenso stark von Luries Innenleben handelt), der Konflikt Petrus-Pollux/Lucy-(David), bzw. dieses seltsam, ja pervers anmutende Lebensmodell. Coetzee ist ein wahrer Meister, der so komplex denkt und schreibt, dass simple Rassismusüberlegungen, sowohl was sein Werk an sich, aber auch seine Figuren, allen voran natürlich Lurie (von Malkovich übrigens sehr spannend interpretiert, vor allem am Anfang wirkt er fast beängstigend mit seinem untersetzten Grinsen, wie ein lustgesteuerter Zombie), angeht, ohnehin viel zu kurz greifen. Das alte Thema von Schuld und Sühne, radikal und unerhört kontrovers umgelegt auf die Rassenkonflikte. Coetzee hat mit Disgrace ein tief erschütterndes und tief eindringendes Werk geschaffen, vermutlich selten gelingt es einem Schriftsteller auf nicht einmal 300 Seiten derart komplex Gedanken zu unterschiedlichsten essentiellen Themen zu provozieren. Wer diese Vorlage nun beim Ansehen der Verfilmung nicht kennt, verliert natürlich Einiges. Und dennoch vermag auch der hervorragend inszenierte Film für sich alleinstehend faszinieren und geht vor allem als kühle und intensive Abhandlung über die Rassen- und Gewaltprobleme in Südafrika ebenfalls mutige Wege.

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